Das Rheinprojekt

ein fotografisches Projekt von Stephan Kaluza

Notizen von Jürgen Raap zum Rheinprojekt von Stephan Kaluza

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Eine wissenschaftliche Dokumentation von Wirklichkeit bedarf nicht nur der optischen Veranschaulichung der Dinge, sondern vor allem der Wiedergabe exakter Messergebnisse. Diese Messergebnisse stellen immer mathematische Stellenwerte innerhalb eines Koordinaten- oder Referenzsystems dar. Ein künstlerisches Bildkonzept hingegen benötigt solche Zahlenangaben allenfalls zur Demonstration einer ästhetischen Bedeutung. Die Größe oder Ausdehnung eines Werks oder die Dauer einer Schaffensphase sind ein wichtiges Charakteristikum für die Einordnung und Bewertung dieser künstlerischen Arbeit. Es ist z.B. einsichtig, dass in der Malerei generell die Wahl eines bestimmten Bildformats wichtig ist und manchmal erst bei einer gewissen Bildgröße die beabsichtigte Werkaussage optimal kommuniziert werden kann. Ebenso kann in der Baukunst ein Gebäude erst ab einer bestimmten Dimension den vom Erbauer gewünschten Eindruck von Erhabenheit, Repräsentativität oder Kolossalität hervorrufen.

 

So wird denn in analoger Weise auch bei einer Projektkunst, wie sie Stephan Kaluza mit der Dokumentation eines geografischen Raumes realisiert hat, eine künstlerische Überzeugungskraft erst dann wirksam, wenn die Fotografie eine Komplexität erfasst, wie sie mit bloßem Auge nicht wahrgenommen werden könnte: Das Ziel ist also eine dokumentarische Totalerfassung komplexer Phänomene mittels Horizontalfotografie, wobei sich die Ausdehnung des Projekts auf einen sehr langen Flusslauf oder auf die Umrisslinie eines Kontinents focussiert. Wir können an einem Flussufer oder am Meeresstrand stehend den Blick so weit schweifen lassen, wie die Kopfdrehung, d.h. unsere physische Anatomie, uns das erlaubt. Wir können auch auf einem zeitlich begrenzten Ausflug einen im wahrsten Wortsinne "überschaubaren" Abschnitt des Ufers oder Küstenstreifens visuell erleben. Aber wir sind nicht in der Lage, den gesamten Flusslauf des Rheins oder die gesamte Umrisslinie eines Kontinents zugleich wahrzunehmen.

 

An dieser Tatsache knüpft Stephan Kaluzas "Rheinprojekt" an. Er hat zusammen mit seinem Team diesen Fluss in seiner gesamten Länge von 1.620 km zu Fuß abgewandert, und zwar von der Quelle am Piz Badus in der Schweiz bis zur Mündung bei Rotterdam. Mit Unterbrechungen dauerte diese Wanderung etwa acht Monate. In dieser Zeit wurde das linke Rheinufer komplett fotografiert: Pro Minute wurde von der rechten Rheinseite aus ein Bild vom Ufer auf der anderen Flusseite gemacht. In diesem unbefestigten Ufergelände kann man im Durchschnitt in einer Minute etwa 70-90 m zurücklegen. Diese Wegstrecke entspricht exakt jenem Wahrnehmungsraum, den das menschliche Auge zwischen dem vorherigen und dem nächsten Fotostopp auf der anderen Flussseite erfassen kann. Auf diese Weise ergab sich schließlich von Minute zu Minute ein lückenloses fotografisches Erfassen des gesamten Uferstreifens in 21.449 Aufnahmen.

 

Wollte man nun in einer Ausstellung alle diese Aufnahmen in einer einzigen Linie zeigen, so würde ein Fotobalken von 15 cm Höhe dem Betrachter das Abgehen einer Strecke von 4 km abverlangen, bis er diese Dokumentation vom gesamten Rheinufer gesehen hat. Das Prinzip, das Stephan Kaluza anwendet, besteht also aus einer bildlichen Komprimierung von geografischen Phänomenen mit komplexer Ausdehnung (hier: Fluss). Als Dokumentation eines Kunstprojekts würde eine solche Ausstellung des kompletten Bildstreifens dem Betrachter einen eigenen Erlebnisraum bieten, der sich von der geografischen Wirklichkeit physisch und visuell abkoppelt: Man sieht auf dieser 4 km langen Bildstrecke die gesamte Wassermenge vor sich, die der Rhein auf 1.620 km mit sich führt. Aber man bräuchte für das Abschreiten der Bildreihe in normalem Wandertempo nur etwa 48 Minuten, wozu diese Wassermenge in der Realität bei normaler Fließgeschwindigkeit mehrere Tage benötigt, um in der Realität vom Quell- zum Mündungspunkt zu gelangen. Das Projekt leistet also mit der Komprimierung des bildlich erfassten Raumes zugleich eine Komprimierung von Zeit.

 

Die tatsächliche Länge eines solchen Flusses erlaubt im Alltag nur eine Wahrnehmung von Abschnitten. Erst in dieser fototechnischen Verkleinerung wird die (Fluss)realität als Ganzes erfahrbar. Was für den Reisenden nur als quasi filmisches "Nacheinander" von Wahrnehmungseindrücken möglich ist, wird bei dieser Dokumentation als Simultanbild geboten. Es handelt sich bei der Montage nämlich nicht etwa um eine Aneinanderreihung von 21.449 Einzelbildern, sondern um deren Verdichtung zu einem einzigen 4 km langen Bild.


Ästhetisch geschieht dies durch die Aufhebung der Perspektive: Jedes Foto entstand am Flussufer zwar aus einer Zentralperspektive, doch in der Montage sind die Fluchtpunkte und damit eine räumliche Tiefenwirkung automatisch aufgehoben. Man sieht daher keine in die Tiefe gestaffelten Landschaftshintergründe wie beim klassischen Panoramabild, sondern stattdessen lediglich einen kulissenhaften Vordergrund mit einer Häuserzeile oder einer monotonen horizontalen Hafenmauer.

 

Ein Panoramabild erstellen zu wollen, hat Stephan Kaluza auch ganz bewusst vermieden, denn weder der Fotograf noch später der Bildbetrachter sollten eine tellurische Perspektive einnehmen, wie sie für den klassischen Aussichtspunkt oder wie beim Feldherrnhügel von oben typisch ist, als "Überblick" im direkten Wortsinn. Für dieses Bildkonzept ist hingegen der ebenerdige Standpunkt wichtig, mit dem eingeschränkten Blickwinkel, den solch ein Standpunkt dem bloßen Auge erlaubt. Desgleichen ist ebenso die fußläufige Bewegung eine conditio sine qua non für den spezifischen Charakter dieser Bildästhetik. Denn nur die Langsamkeit der Bewegung erlaubt jene Intensität von Wahrnehmung, wie sie die Bildreihe widerspiegelt: Nur in diesem Tempo ist diese spezifische bildliche Fixierung auf Details wie Buschwerk, Kaimauern, Kribben oder Brückenköpfe möglich. Zum unbedingten Willen einer Wiedergabe von wahrnehmungsphysiologischer Authentizität gehörte daher, auf fototechnische Raffinessen wie Zoom, auf Spezialobjektive oder eine fahrbare Kamera konsequent zu verzichten.

 

Im Laufe der Projektdauer von rund acht Monaten wurden beiläufig auch die Veränderungen der Vegetation im Laufe der Jahreszeiten erfasst, und natürlich ebenso der jeweilige Tagesverlauf mit seiner unterschiedlichen Intensität der Sonneneinstrahlung und seinem Wechsel der meteorologischen Abläufe von Nebeldunst, Sonnenschein, Bewölkung und Regen. In der Präsentation der Bildstrecke sind diese Zeitunterschiede jedoch wieder aufgehoben, obwohl die Fotos keinerlei nachträgliche Bearbeitung erfahren haben. Für das bildästhetische Ergebnis dieser Fotografie ist dies eine ebenso verblüffende Tatsache wie die eben erwähnte Auflösung der Perspektive.

 

Stephan Kaluza hat mit diesem Projekt künstlerisch und fotografisch ein absolutes Neuland betreten, denn vor ihm hat noch niemand das gesamte Rheinufer lückenlos im Bild dokumentiert. Ein solches Projekt konnte technisch auch erst seit einigen Jahren durch die Entwicklung der digitalen Fotografie realisiert werden, da nur diese eine solche Erfassung und fugenlose Präsentation der Aufnahmen in einem einzigen Bildstreifen ermöglicht.
Damit geht Stephan Kaluza über die historischen Vorläufer der geografischen Bildkunde hinaus. Die Kartografie versucht seit dem 15. Jh. eine solche Totalerfassung von großen Landschaftsräumen oder gar Kontinenten durch die maßstabsgetreu verkleinerte Wiedergabe von Realität zu erreichen. Diese kann hier aber letztlich nur in einer indexikalisch abstrahierten und schematisierten Darstellung bestehen, und deswegen muss man bei Landkarten eine mangelnde Detailgenauigkeit in Kauf nehmen: Konkrete Orte sind in Atlanten und auf Globen nur als Punkte notiert, Straßen, Brücken und Flüsse lediglich als unterschiedlich farbige Linien, andere markante Objekte als Symbolzeichen. Bei der Satelittenfotografie hingegen steht die Detailgenauigkeit in reziprokem Verhältnis zur Größe des erfassten Bildraumes: Je präziser ein Detail abgebildet wird, desto kleiner ist die lokale Fläche, die der Bildausschnitt wiedergibt.

 

Künstlerisch handelt es sich beim "Rheinprojekt" weder um Land Art noch um eine Synthese aus Kunst und Naturwissenschaft zur topografischen Bestandsaufnahme eines Landschaftsraumes. Letzeres ist allenfalls ein außerkünstlerischer Nebenaspekt. Im Mittelpunkt des künstlerischen Interesses steht indessen das geschilderte Bildkonzept, eine komplexe Realität komprimiert zu erfassen. Die konkrete Flusslandschaft ist dafür lediglich ein Fallbeispiel. Dennoch bedarf es dabei ganz offensichtlich einer kulturellen wie geografischen Markanz, wie sie der Rhein als europäischer Fluss hat, und nicht etwa der Wahl irgendeiner beliebigen banalen Wegstrecke.


Natürlich weiß Stephan Kaluza, dass man auf eine im öffentlichen Bewusstsein präsente mythologisch-historische inhaltliche Aufladung stößt, wenn man ausgerechnet den Rhein als Strukturvorgabe für solch ein Bildkonzept nimmt. Doch das kann man als Künstler durchaus ignorieren, indem man nämlich entlang des Rheins hässliche Industrieanlagen und monotone Kaimauern ebenso fotografiert wie liebliche Weinberge. Doch durch die Länge der Bildstrecke sind letztlich alle Motive gleichwertig, so dass der Fotograf gar nicht erst in die Falle tappen konnte, sich auf landschaftspoetische Vorlieben besonders einzulassen, langweilige Fabrikareale auszuklammern oder auch jenen touristisch-folkloristischen Sujets auszuweichen, die sich durch die Postkartenfotografie längst abgenutzt haben.


Es ist alles erfasst, wirklich alles, und es ist keiner kulturellen oder sozialästhetisch-ideologischen Wertung als "spießig", "romantisch", "urban" oder "unökologisch" unterzogen worden. Alle diese Wertungen nivellieren sich in der Bildstrecke. Indem sich Stephan Kaluza methodisch wie ästhetisch dieser Tradition einer bildnerischen Romantik widersetzt, knüpft er an eine Relation zwischen Bild und Technik an, wie sie z.B. Walter Benjamin und andere als typisch für die Epoche der Moderne beschrieben haben. Daran schließt sich nun die Frage an, wie in unseren Tagen die Wahrnehmung von Alltagswirklichkeit durch die für uns noch recht neuartigen digitalen Bilder beeinflusst wird. Sehen und erleben wir den Rhein durch solche Bilder nun anders? Stehen wir durch die Digitalfotografie gar generell an der Schwelle einer Revolution des Sehens, vergleichbar nur mit jener kulturtechnischen Innovation, die vor gut 600 Jahren die Gutenbergsche Drucktechnik für die damalige Gesellschaft geleistet hat? Provoziert das Zeitalter der ICE-Hochgeschwindigkeitszüge (deren 2001 neu eingeweihte Strecke Köln-Frankfurt bekanntlich nicht durch die Windungen des Rheintals verläuft, sondern schnurgerade durch den Westerwald) ein Bedürfnis nach vermehrter fußläufiger Langsamkeit? Liegt nicht zuletzt auch in dieser Postulierung (einer Wiederentdeckung) der Langsamkeit das Zeitgemäße des "Rheinprojekts"?

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