Zeichen – Spuren

Ein Interpretationsversuch von Lars Distelhorst

Um sich einem Verständnis dessen zu nähern, warum von den Bildern von Sonja Koczula etwas Faszinierendes ausgeht, ist es am Besten mit einem Geständnis zu beginnen: Dem Eingeständnis genau diese Frage nicht beantworten zu können. Es ist eine verstörende Dimension in diesen Bildern, ein Gefühl, als würde etwas ins Wanken geraten und vom Verschwinden bedroht. Doch warum? Weder versuchen ihre Bilder die Schlechtigkeit der Welt noch die Verworfenheit des Menschen ins Licht zu rücken. Ganz im Gegenteil zeigen sie dem Betrachter lediglich schwarze Formationen auf Hintergründen, die von Rot und Blau über Ocker bis Weiß reichen. Mit ein wenig Mühe und Phantasie ist es nicht schwer, den Formen konkrete Dinge zuzuordnen: Insekten, Flugzeuge, Landschaften. Doch diese Herangehensweise erweist sich nach kurzer Zeit als unbefriedigend, da es nur nötig ist, einen Meter zur Seite zu treten, um die Form anders deuten und den gerade erhaschten Sinn wieder verabschieden zu müssen. Außerdem ist klar: Wäre es die Absicht der Künstlerin gewesen, dem Betrachter konkrete Gegenstände nahe zu bringen oder ihm zu zeigen, wie verschieden die Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet aussehen können – sie hätte anders gemalt. Sonja Koczula selbst weist in Richtung einer anderen Möglichkeit, wenn sie einigen ihrer Bilder den lakonischen Titel Zeichen – Spur gibt.


Der Weg zum Verständnis dieser Bilder führt über das Verständnis, was ein Zeichen ist und welchen Stellenwert es für das Leben des Menschen hat. Von Bildern und Zeichen wird die möglichst genaue Repräsentation einer Realität erwartet, die nicht in ihnen selbst gelegen ist. So zeigt ein Bild, auf dem ein Baum abgebildet ist, den Ausschnitt einer Landschaft, die es irgendwo wirklich gibt und das Wort Baum löst in allen Menschen die Vorstellung eines Baumes aus, den sie so oder ähnlich schon einmal gesehen haben. Jedes Zeichen repräsentiert eine bestimmte Sache, die im realen Leben eine Rolle spielt und der Mensch bedient sich ihrer, um sich über Leben und Umwelt zu verständigen. Es gibt eine bestimmte Anzahl an Zeichen und da sie in vielfältiger Weise kombinierbar sind, lässt sich nahezu alles mit ihnen sagen. Doch ganz so einfach kann es nicht sein. Wenn jeder Mensch über einen bestimmten Satz von Zeichen verfügen würde, so steckte in diesen bereits immer die Vielzahl ihrer Kombinationsmöglichkeiten und niemals wäre es möglich, etwas zu sagen, was darüber hinausginge. Der Mensch könnte seinem Gegenüber nur sagen, was es bereits wüsste, da es immer schon über die gleichen Zeichen und damit über die gleichen Kombinationen verfügte.


Die Sache muss demnach ein wenig komplexer sein. Können Zeichen wirklich die Realität abbilden? Natürlich nicht – aber warum nicht? Es fängt bereits bei der Wahrnehmung an. Kein Meister der Malerei hat jemals die Realität eingefangen. Ein Haus ist immer ein aus einer bestimmten Perspektive gesehenes Haus, niemals das Haus an-sich. Die Farbe dieses Hauses wird durch das menschliche Auge in spezifischer Weise wahrgenommen, einer Weise, die anders wäre, sofern der Mensch nur über minimal modifizierte Sehorgane verfügte. Um es mit dem französischen Philosophen Merleau-Ponty zu sagen: Jede Wahrnehmung ist bereits stilisierend. Doch die menschliche Abgeschnittenheit von der Realität reicht wesentlich weiter. Da der Mensch ein Sprachwesen ist, wird jeder Versuch, die Dinge der Welt zu verstehen, zwingender Weise über die Sprache stattfinden. Jeder wahrgenommene Gegenstand ist immer schon durch die Sprache kodiert und damit der Kultur eingeschrieben. Das Zeichen Baum, ob gesprochen, geschrieben oder als Bild, vermittelt den Menschen immer eine in der Sprache gelegene und somit kulturell geprägte Vorstellung von seinem Gegenstand. Doch ist auch dies nur halb richtig. Wo zehn Menschen von einem elften einfach nur mit dem Wort Baum konfrontiert werden, existieren entsprechend viele Vorstellungen davon, was gemeint sein könnte: Zu Tannen, Eichen und Birken gesellen sich Ahnenreihen, Organigramme und der biblische Fall der Erbsünde. Erst wenn weitere Zeichen hinzutreten, wird die Angelegenheit deutlicher und es entsteht eine Ahnung, was gemeint sein könnte. Zeichen gewinnen ihre Bedeutung nicht aus sich selbst, sondern aus ihrer Integration in eine Zeichenkette, in eine Struktur, in der sie in Relation zu anderen Zeichen treten, von denen sie sich unterscheiden. Damit dies funktioniert ist noch mehr notwendig: Es muss klar definiert sein, was Teil der Struktur ist und was nicht.
Ein einfaches Beispiel kann dies veranschaulichen. Man stelle sich eine Sprache vor, in der alles als Zeichen gelten würde, jedes Geräusch, jeder Kritzel. Damit würde alles als Sprechen und Schreiben gelten, es gäbe keine Regeln und jeder Mensch könnte in der Sprache machen, was ihm gefiele – nur würde ihn niemand verstehen. Es bedarf also verbindlicher Regeln, was ein Zeichen ist und was nicht, wie es kombiniert werden darf, wie es betont werden muss und vieles mehr. Eine Regel schafft aber immer einen Bereich dessen, was nicht sein darf, einen Bereich des Verworfenen, in dem das Unmögliche situiert ist. Jedes Zeichensystem konstituiert sich durch den radikalen Ausschluss dessen, was nicht als Zeichen fungieren kann und darf. Was unter dieser Oberfläche des Symbolischen liegt – das unkodierte, unstilisierte Reale – erfüllt den Menschen mit Schrecken, da sie es nicht fassen, nicht verstehen können und es ihre Realität zu zerschlagen droht. Aber so sehr auch versucht wird, diesen Bereich des Unaussprechlichen zu bannen, kommt er doch immer wieder an die Oberfläche und stört die sichere Ordnung der Dinge, zwischen denen der Mensch sich eingerichtet hat. Denn um zu ihrer Festigung zu finden muss diese Ordnung sich immer wieder vom nicht Benennbaren, Traumatischen abgrenzen und schafft durch diesen Akt der Exklusion ein Verhältnis von Nähe und Verbundenheit. Was aber hat all das mit den Bildern von Sonja Koczula zu tun?


Zunächst imitieren sie durch ihre Farb- und Formwahl ganz gezielt die Schrift – in einer auf Wissen und Kommunikation basierenden Kultur die wichtigste Zeichenstruktur überhaupt. Ihr Arrangement in Serien verdeutlicht die Eigenschaft sprachlicher Zeichen, niemals für sich stehen zu können und immer auf andere Zeichen verweisen zu müssen, um Bedeutung zu erlangen. Hat man es also mit einer Phantasiesprache zu tun? Doch was sollte das Beunruhigende einer solchen Sprache sein, wo doch heute jeder Mensch mit vielen Sprachen konfrontiert ist, die er nicht versteht, ohne dies als Bedrohung seiner Existenz wahrzunehmen? Auffällig ist, dass keines der Zeichen von Sonja Koczula sich an den Rahmen hält. Ebenso wie sich jede Zeichenstruktur gegen ihr Außen abgrenzt, schafft der Rahmen eines Bildes eine gewisse Form von Sicherheit. Was im Bild gezeigt wird, bleibt in festen Grenzen und läuft nicht Gefahr auf die sonstige Welt überzugreifen. Nun haben schon viele Künstler versucht, die Begrenzung durch das Bildformat zu überwinden. Das Charakteristische an der Kunst von Sonja Koczula ist es, dass sie dieses Motiv der Überwindung mit einer malerischen Darstellung von Zeichen verbindet. Nie sieht man das ganze Zeichen, immer nur einen Ausschnitt. Wenn das Bild größer wäre, könnte der Betrachter vielleicht das komplette Zeichen sehen und es als etwas einordnen, das er kennt und versteht, auch wenn er es nicht versteht, da er diese Sprache nicht spricht. Hier jedoch wird der Kontext gesprengt. Die Zeichen ragen weit in das Außen hinein, werden von ihm untergraben und bleiben doch als Zeichen erkennbar. Was die Bilder von Sonja Koczula zeigen ist genau jener Augenblick der Verstörung, da ein ausgeschlossenes Außen in eine sicher geglaubte Zeichenstruktur hereinbricht und ihre Ordnung zu zerstören droht. Es ist der Augenblick, der die Menschen mit dem Traumatischen, Ausgeschlossenen konfrontiert und die natürliche Ordnung der Dinge angreift, in der sie sich bislang bewegten. In ihren Bildern konkrete Formen wiederfinden zu wollen, ist eine normale Reaktion auf diese gezielte Verstörung, doch zum Scheitern verurteilt, da hier eine Realität gezeigt wird, die auf der gefährlichen Scheidelinie von Sinn und Un-Sinn situiert ist. Die entstehenden Zeichen zielen nicht länger darauf, sichere Kontexte zu schaffen, sondern wollen genau über jene Scheidelinie sprechen, die sie vom Ausgeschlossenen trennt.

 

Lars Distelhorst, Berlin, Juli 2006

nach oben | zurück | drucken